Angst hat viele Gesichter:
Zwischen Angstfreiheit und ausgeprägter Angst liegt ein Spektrum von Unsicherheit, Beklemmung, Ängstlichkeit.
Angst ist nicht per se “schlecht”. Sie dient als Schutzmechanismus in potentiell (lebens-)gefährlichen Situationen. Angst löst die bekannten Stressreaktionen im Körper aus: Fight or Flight - oder Freeze, wenn uns weder Fight noch Flight möglich erscheint.
Im Laufe unseres Lebens haben wir die ein oder andere Strategie erlernt, wie wir Situationen bewältigen, die uns mit den Gesichtern der Angst konfrontieren.
Auch der Yoga kennt Angst: Patanjalis führt im Yogasutra Abhinivesha an - die Angst vor dem Tod. Eines der 5 Kleshas - der Hauptursachen des Leidens.
Im Yogasutra wird uns auch ein Weg an die Hand gegeben, der uns die Kleshas überwinden lässt: Die Rückkehr des Geistes zu der Quelle, der er entspringt. Die Loslösung von der Identifikation mit unseren mentalen Mustern - durch Meditation.
Ich möchte dies für mich etwas greifbarer und alltagstauglicher interpretieren:
Etwas weiter gefasst, geht es bei Abhinivesha nicht nur darum, dass das Leben unseren Körper verlässt, sondern auch um die Angst vor dem Unbekannten, dem Ungewissen.
In den letzten Jahren habe ich mich bewusst in Situationen begeben, die mich mit meinen Unsicherheiten konfrontieren, beispielsweise Prüfungen, Vorstellungsgespräche und auch meine Position als Kursleiterin. “Flucht” war und ist hier keine Option.
Also “Kampf”: Ich besinne mich auf meine Fähigkeiten und mein Wissen, und darauf, dass ich nichts zu verlieren habe und nur gewinnen kann (und wenn es “nur” Erfahrung ist).
Um mich nicht in einer Angstspirale zu verlieren, übe ich Yoga.
Abseits der Matte, wie eben beschrieben, oder auch auf der Matte, um mich selbst zu spüren.
Yoga unterstützt mich.
Doch nicht alle Situationen sind selbst gewählt und nicht alle Ängste lassen sich auf konkrete Situationen (oder Dinge) zurückführen.
Ganz aktuell beschäftigt mich die Mischung aus beidem.
Ja, ich habe Angst.
Angst vor der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung. Angst vor Menschen, die psychische und physische Gewalt an Menschen ausüben, die nicht in ihr Weltbild passen. Angst vor den Auswirkungen des Klimawandels.
Diese Ängste sind diffus, deswegen jedoch nicht weniger ernst zu nehmen.
Sie geben mir ein Gefühl von Macht- und Hilflosigkeit.
Sie lösen Gedankenspiralen in mir aus, die den Bezug zur derzeitigen Realität verlieren.
Sie lassen mich vergessen, dass die Mehrheit der Menschen (in Deutschland) zur Europawahl ihr Kreuz nicht bei einer Partei gemacht hat, die ein “rechtsextremistischer Verdachtsfall” ist.
Sie lassen mich die Hoffnung darauf verlieren, dass die anstehenden Landtagswahlen uns kein “blaues Wunder” erleben lassen.
Sie lösen einen lähmenden Weltschmerz in mir aus.
Auch hier kann Yoga mich unterstützen.
Die Asanapraxis fördert meine innere Stabilität und schenkt mir Kraft - physisch und psychisch.
Mein bewusster Atem stellt die Verbindung zum gegenwärtigen Moment her.
Mein Geist wird ruhiger, statt Kreise Zukunftssorgen zu drehen und sich in meinen Gedankenspiralen zu verlieren.
Yoga chitta vritti nirodhah - Yoga ist das Zur-Ruhe-bringen der Bewegungen des Geistes.
Für einen Moment genieße ich einen tiefen inneren Frieden und gehe gestärkt zurück in den Alltag.
Yoga löst meine diffusen Ängste nicht auf.
Aber Yoga erinnert mich daran, dass mein Erstarren in der Angst keine Option ist.
PS: Da ich Yoga als ein Weg der Persönlichkeitsentwicklung verstehe, hat dieser Beitrag nur für meine privilegierte Lebensrealität Relevanz.
Wenn Grundbedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse und auch soziale Bedürfnisse nicht erfüllt werden, verliert mutmaßlich auch Yoga seine Relevanz.